Nirgends versteht man Mexiko besser als auf dem Dorf, und nirgends versteht man das Dorf besser als auf der Fiesta — der Seele des Dorfs.

Malinalco ist ein pueblo de fiesta, es lebt für die Fiesta — ganz wörtlich. Das Dorf hat sieben Kapellen und die große Klosterkirche, alle mit ihren Schutzpatronen, die natürlich gebührend gefeiert sein wollen. Dazu kommen die katholischen Hochfeste Weihnachten, Ostern und Pfingsten sowie ein ganzer Reigen weniger hoher Feste wie Lichtmess, Fronleichnam, Kreuzanbetung, Día de Muertos, diverse Himmelfahrten, Dreikönig, Mariä Geburt und Empfängnis, nicht zu vergessen der Tag Unserer Lieben Frau von Guadalupe und sicher auch noch einige andere, die mir nur gerade nicht einfallen. Das heißt, im Durchschnitt findet alle vierzehn Tage irgendwo im Dorf eine Fiesta statt.

»Die Fiesta ist die Seele des Dorfes«, sagt Arcadio. Und das ist nicht übertrieben: Sie ist der Lebensatem des Dorfs. Natürlich beschränkt sich die Fiesta nicht auf den Tag des Heiligen, sondern dehnt sich über eine ganze Woche aus. Und die monatelange Vorbereitung gehört genauso dazu: Die Kapelle will instand gehalten, das Dach gedeckt, die Fassade gestrichen und der Garten gepflegt sein — alles schon für die Fiesta. Wenn die dann näher rückt, werden Kostüme geflickt oder neu geschneidert, Geld wird gesammelt, das Gotteshaus auf Hochglanz gebracht und geschmückt, vor der Kapelle das Podium für die Musik aufgebaut und das Essen vorbereitet. In der Woche vor der eigentlichen Fiesta beginnen die Umzüge und Prozessionen, Heiligenfiguren aus dem gesamten Dorf werden mit Musik und Böllern durch die Gassen getragen, am Abend vor dem Fest werden Serenatas gespielt. Dann kommt der große Tag mit neuen Prozessionen und Umzügen, Böllern, Musik, Tanz, Mole, Mezcal, Schlägereien und Abschlussfeuerwerk.

Die »zivilen« Institutionen des Dorfes drehen sich ganz um die Fiestas. An der Spitze jedes Viertels steht der Mayordomo, der Zeremonienmeister, der in der Vorbereitung und Durchführung der Fiesta vorangeht. Gewählt wird er am Tag nach der Fiesta des Viertels, und seine erste Amtshandlung besteht darin, aufzuräumen. Und dann beginnen schon die Vorbereitungen für die nächste Fiesta.

Natürlich —wie könnte es anders sein? — hat die Fiesta auch ihre Kritiker. »Meine Cousine hat nicht mal Geld, um ihren Kindern neue Schuhe zu kaufen. Aber wenn Fiesta ist, dann kocht sie tagelang Bottiche voll Mole«, klagt Meli, die in Mexiko-Stadt aufgewachsen ist. »Die können doch nicht von einem verlangen, dass man erst an die Fiesta denkt, und dann an sich selber!« Aber so denkt ihre Cousine wahrscheinlich gar nicht. Sie tut was sie kann — für die Kinder und für die Fiesta. Sie stellt keine rationale Kosten-Nutzen-Rechnung an. Dieses Kalkulieren und rationale Aufrechnen ist den Malinalca fremd, zumindest wenn es an ihre kollektiven Feiern geht. Die Gemeinschaft geht ihnen über alles, und für sie tun sie alles. Und die Fiesta ist nun einmal der Ort, an dem die Gemeinschaft lebt.

Trotzdem bedroht der Rationalismus auch die Fiesta und die traditionelle Dorfkultur. Seit Inkrafttreten des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens vor 25 Jahren können sich die Kleinbauern nicht mehr von der Landwirtschaft ernähren, weshalb viele in die Städte oder »nach drüben« gehen. Daher fehlen in Malinalco Männer mittleren Alters, die in der Gemeinschaft Verantwortung übernehmen. Die Fiesta wird zunehmend mit den Überweisungen von Ausgewanderten finanziert, die nur ein virtueller Teil der Gemeinschaft sind. Und jüngere Männer, die für kurze Zeit nach drüben gehen, bringen statt Geld oft nur Gewalt zurück ins Dorf. Die Malinalca erschließen sich zwar neue Einnahmequellen, doch die tragen nur weiter zu der Erosion der Dorfkultur bei: zum einen den Verkauf von Grundstücken an reiche Städter, zum anderen den Tourismus, der ihre Fiesta zum Publikumsspektakel degradiert.

Und dennoch: Die Fiesta ist bis heute ein Ort, an dem ein ganz eigenes Weltbild und eine eigene Lebensphilosophie lebendig bleiben. Ein Ort, der sich dem alles einbetonierenden Rationalismus unserer Zeit widersetzt.
Wozu lebt der Mensch? Hierauf haben die Malinalca ganz andere Antworten als die Städter. Das pueblo de fiesta ist ein Ort, an dem eigene Werte gelten — Werte wie Glaube, Ritual, Spiritualität, Magie, Solidarität und Gemeinschaft. Menschen wie Meli, Lulú, und ich — Menschen aus einer rationalen und »entzauberten« Welt, in der sich alles um die Selbstoptimierung und Selbstausbeutung des Einzelnen dreht — können das bestenfalls theoretisch nachvollziehen. Wirklich leben könnten wir es nicht, selbst wenn man uns als Außenstehende hineinließe (was niemals passieren würde) — zu anders sind unsere Werte und Vorstellungen. Aber wir können die Fiesta mitfeiern, dem Rationalismus, der heute uns und die gesamte Welt vernichtet, wenigstens für ein paar Tage eine lange Nase drehen, und eine Ahnung von der Möglichkeit eines anderen Lebens mitnehmen.

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