Wanderer

Wenn im reichen Westen über Migration gesprochen wird, dann vor allem aus Sicht der Zielländer. Aber natürlich hat sie auch gewaltige Auswirkungen auf die Herkunftsländer. Wie in Malinalco.

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Oma sagt, Ihr seid weg, damit es mir besser geht. Aber es geht mir nicht besser. Ich vermisse euch. Ich will nicht, dass Ihr das für mich tut. Ihr seid meine Eltern. Ich will, dass Ihr hier bei uns seid.

Diese Zeilen stammen aus dem Brief eines achtjährigen Jungen aus Malinalco an seine Eltern, die in die USA gegangen sind, um Arbeit zu suchen, und ihn bei seiner Großmutter zurückgelassen haben. Er könnte aber auch in jedem anderen Ort in Mexiko und vielen anderen Städten und Dörfern der Welt geschrieben worden sein. Ein winziger Unterschied mag sein, dass in Malinalco die Familien der Migranten von Ellen Calmus und ihrer Stiftung El Rincón betreut werden. In über 15-jähriger Arbeit hat Calmus in diesem kleinen Ort im mexikanischen Hochland ein Programm aufgebaut, das Zurückgelassene und Heimkehrer mit Verdienstmöglichkeiten, Computer-, Sprach- und Handwerkskursen, Ferienprogrammen, psychologischer Betreuung und Hilfe beim Kampf mit der Bürokratie beisteht. Ein bemerkenswertes Projekt, für das sie die mexikanische Verdienstmedaille Premio Quetzalcóatl erhielt und das inzwischen auch im Ausland Aufmerksamkeit weckt.

Ein Dorf aus dem mexikanischen Bilderbuch

Ich treffe Ellen Calmus im Kulturzentrum von Malinalco. Dort zeigt ihre Stiftung El Rincón eine Ausstellung mit Geschichten, Briefe und Zeichnungen von Kindern aus Migrantenfamilien. Ich komme ein wenig früher, um mich allein umzusehen. Das Kulturzentrum ist ein altes, weinrotes Gebäude neben dem historischen Dorfplatz, gegenüber einem Augustinerkonvent aus der Zeit der spanischen Eroberung und zu Füßen eines monolithischen Tempels, den die Azteken hoch über dem Dorf aus dem Fels gehauen haben. Die 8000 Seelen-Gemeinde Malinalco ist ein Ort wie aus dem mexikanischen Bilderbuch und wird seit ein paar Jahren von der Tourismusbehörde gefördert. Doch der Wochenendtourismus aus der Hauptstadt ernährt nur wenige, und seit der Gründung der Freihandelszone NAFTA vor zwanzig Jahren und dem Verfall der Agrarpreise wissen die Einwohner täglich weniger, wovon sie leben sollen. Daher gehen immer mehr Malinalca in die Vereinigten Staaten.

Neben dem Brief des Jungen lese ich die Geschichte eines Mädchens: „Wir haben telefoniert und meine Mama hat uns versprochen, dass sie zurückkommt. Sie hat gesagt, ich habe ein Ticket und ich komme nächste Woche. Wir haben uns alle gefreut, die Oma und meine Geschwister. Aber dann ist sie nicht gekommen. Wir haben gewartet und gewartet und gewartet. Und dann haben sie uns gesagt, dass sie nicht mehr kommt. Dass sie nie mehr kommt.“

In der ungelenken Handschrift und den einfachen Sätze lesen sich die Geschichten noch nackter und grausamer. Als ich nach draußen gehe, stehen mir die Tränen in die Augen und ich muss tief durchatmen.

„Ich wollte kein Projekt gründen“

Ellen Calmus wartet bereits im Hof. Die knapp Sechzigjährige sieht aus, als wäre sie einer Zeitmaschine entstiegen. Mit ihrem graumelierten, zu einem Knoten zurückgebundenen Haar, ihrer hellgrauen Strickjacke, ihrem dunkelgrauen Rollkragenpullover und ihrem langen, dunkelgrauen Rock sieht sie aus wie eine englische Missionarin aus dem 19. Jahrhundert. Vielleicht haben die Jesuiten auf sie abgefärbt, mit denen sie lange zusammengearbeitet hat. Ende der Achtziger arbeitete die Fotografin und Politologin für eine katholische Hilfsorganisation in El Salvador. Dann wurde sie vom Bürgerkrieg eingeholt und sah sich gezwungen, das Land zu verlassen. Sie ging nach Mexiko-Stadt und arbeitete als freie Redakteurin für Verlage in den Vereinigten Staaten. Bei mehreren Wochenendausflügen verliebte sie sich in Malinalco, und weil sie in ihrer Arbeit ungebunden war, konnte sie aufs Land ziehen.

„Ich wollte gar kein Projekt gründen. Ich habe mich einfach nach einem Ort gesehnt, an dem ich in der Natur leben und spazierengehen kann“, erinnert sie sich.

Sie war allein nach Malinalco gezogen, sie kannte dort niemanden, und das war ihr eigentlich auch ganz recht. Nur ihre Katze brachte sie aus der Stadt mit, und die sollte den Stein ins Rollen bringen.

Eines Tages stand ein sechsjähriges Mädchen am Zaun ihres neuen Häuschens und lockte die Katze: „Ven gatito!“ Aber die Katze reagierte nicht. Ellen sagte dem Mädchen, es solle doch hereinkommen. Dann sagte sie der Kleinen: „Die Katze spricht nur Englisch. Du musste sie auf Englisch rufen.“ Dann rief sie: „Come, kittycat!“ Und schon kam die Katze angelaufen. Das Mädchen machte große Augen und lief wortlos davon. Kurze Zeit später stand sie mit einer Freundin am Zaun und zeigte auf die Katze: „Guck mal, das ist die Katze, die Englisch spricht!“ Ellen bat die beiden herein. Dann ließ sie die Kinder die Katze rufen und brachte ihnen noch ein paar englische Wörter bei. Die beiden gingen, und wenig später stand das Mädchen mit ihrem Brüderchen im Gartentor. So ging das den ganzen Tag, bis sämtliche Nachbarskinder die englischsprechende Katze gesehen hatten. Danach lud Ellen die Kinder zu sich nach Hause ein und brachte ihnen ein wenig Englisch bei.

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Die Schule an der Ecke

Das war der Anfang ihrer kleinen Schule. Als ihr jemand einen alten Computer schenkte, hielt sie auf ihrer Terrasse Computerkurse ab. Bald fand sich jemand, der das besser konnte als sie, und unterrichtete auf ihrer Terrasse Excel. Spätestens dann wusste Ellen, dass sie mehr tun musste.

Unter ihren alten Kontakten in den Vereinigten Staaten und Mexiko suchte sie Sponsoren und gründete die gemeinnützige Organisation „El Rincón“, benannt nach der Ecke von Malinalco, in der sie lebte. Ein Gasse weiter mietete sie eine Häuschen, wo sie neben Englisch- und Computerkursen auch Hauswirtschafts- und Handarbeitskurse für Frauen anbot. Die Liste der Kurse wurde immer länger, die Leute aus dem Dorf waren ausgehungert. Aber das war erst der Anfang, das Projekt sollte noch eine weitere unerwartete Wende nehmen.

Eines Tages kam die Mutter einer ihrer Schülerinnen zu ihr und erzählte ihr, dass ihre Cousine in den Vereinigten Staaten gestorben sei. Sie war völlig aufgelöst. Ihre Angehörigen wollten sie in Malinalco beisetzen, aber sie wussten nicht, wie sie den Leichnam überführen konnten, denn sie sprachen natürlich kein Wort Englisch. Also setzte sich Ellen ans Telefon.

Erste Hilfe für Migranten

Seit diesem Tag arbeitet Ellen mit den Familien von Migranten. „Fast täglich kommt irgendjemand zu uns“, sagt sie. In ihrem Büro können die Malinalca kostenlos mit ihren Verwandten in den Vereinigten Staaten telefonieren. Wenn Angehörige verschwinden, hilft sie bei der Suche. Wenn Jugendliche ins Gefängnis kommen, versucht sie von Malinalco aus, Unterstützung zu organisieren. Sie hilft den Heimkehrern beim Umgang mit der byzantinischen Bürokratie auf beiden Seiten der Grenze und bei juristischen Problemen. Besonders oft passiert es, dass Familien mit in den USA geborenen Kindern zurückkommen; die Kinder haben keine mexikanische Staatsbürgerschaft und damit kein Anrecht auf medizinische Versorgung und Schulbesuch. Ellen spricht mit dem Schulleiter aus Malinalco und den Ärzten der kleinen Klinik, damit die Kinder versorgt werden können und hilft den Eltern bei der Übersetzung und Beglaubigung amerikanischer Geburtsurkunden. Als der Vater zweier Jungen bei Holzfällerarbeiten in West Virginia ums Leben kam, half sie den Söhnen über eine Anwältin, ihre Entschädigungsansprüche geltend zu machen. Vor allem kümmert sie sich um die psychologische Betreuung der freiwilligen und unfreiwilligen Rückkehrer – gerade nach einer Deportation sind viele verzweifelt, ihre wirtschaftlichen Probleme sind größer denn je, oft haben sie noch Schulden bei den Schleppern, viele fühlen sich gedemütigt und sehen keinen Ausweg mehr.

„Das ist ein Riesenproblem“, erzählt sie. „Vorige Woche hat sich einer der Heimkehrer umgebracht, weil er einfach nicht mehr gewusst hat, was er tun soll. Er hat mit seiner Frau illegal in Kalifornien gelebt. Die beiden wurden denunziert und deportiert, zuhause haben sie noch zwei Töchter gehabt, die bei der Oma gelebt haben. Der Mann war völlig verzweifelt. Die Frauen sind da seltsamerweise robuster.“

„Migranten sind so verwundbar“

Ellen hat eine weiche Stimme, zu der man sofort Vertrauen fasst. Sie spricht sachlich, doch in ihrer Stimme schwingt auch Mitgefühl. Ihre aufrechte Körperhaltung und ihr direkter Blick lassen auf eine große innere Festigkeit schließen. Gleichzeitig wirkt sie sonderbar kühl. Die vielen Jahre in Mexiko haben kaum auf sie abgefärbt: Wenn sie Bekannte begrüßt, die im Zentrum ein und aus gehen, dann nicht mit einer herzlichen Umarmung, sondern mit einer kaum spürbaren Berührung und einem Luftkuss.

„Die Menschen aus Malinalco sind unglaublich verwundbar, wenn sie in die Vereinigten Staaten gehen. Hier hat die Migration gerade erst angefangen, die Leute haben drüben kein soziales Netz, das sie auffängt. Es ist unvorstellbar, wie viele im Norden sterben, in der Wüste, oder bei Arbeitsunfällen. Viele werden entführt und monatelang festgehalten, bis die Familie ein Lösegeld bezahlt.“

Frauen, die aus dem Norden nach Malinalco zurückkommen und hier vor dem Nichts stehen, kann Ellen zwei Monate lang eine Notbeschäftigung bieten.

„Die Künstler aus Malinalco geben Schnitzkurse für Kinder, und die stellen Schlüsselanhänger und Broschen aus Holz her. Mit den Silberschmieden aus Taxco machen wir Silberschmuck. Das verkaufen wir bei uns im Zentrum und übers Internet. Irgendwann haben wir überlegt, dass es schön wäre, auch Täschchen zu haben, in denen man die Anhänger aufheben kann. Eine Weberin aus dem Ort macht uns den Stoff, und die Frauen können sie zusammennähen.“

Ein falsches Bild von der Migration

Aber Ellen will nicht nur Erste Hilfe leisten. „Natürlich geht es uns vor allem um Entwicklung. Wir wollen den Leuten helfen, in Malinalco zu bleiben und hier ein würdiges Leben zu führen.“ Sie meint, die amerikanische Öffentlichkeit habe ein völlig falsches Bild von der Migration. „Die Leute aus Malinalco wollen ja gar nicht drüben bleiben. Sie wollen nur ein oder zwei, höchstens drei Jahre lang arbeiten, um das Dach zu reparieren, ihr Haus fertig zu bauen oder einen Laden aufzumachen. Deswegen lassen sie ihre Familien hier. Aber sie schätzen die Schwierigkeiten falsch ein und nehmen mehr auf sich, als sie tragen können. Weil die Grenzen dicht sind, zahlen sie Schleuser und verschulden sich. Damit haben sie zuhause schon eine Verbindung zu kriminellen Elementen. Und sie können sie nicht mal eben nach Hause zurück und ihre Kinder sehen, weil sie Angst haben müssen, dass sie nicht wieder in die Staaten zurück können und ihre Arbeit verlieren.“

Für ihre Arbeit mobilisiert Ellen inzwischen ein eindrucksvolles Unterstützernetzwerk, zu dem auch Wirtschaftsnobelpreisträger Roger Myerson, Verleger Robert Ellsberg und Menschenrechtler Rafael Moreno Villa gehören. Auf die Frage, warum sie sich so für Malinalco und die Migranten engagiert, gibt sie eine überraschend einfache Antwort, die jedoch zu dem pragmatischen und unideologischen Graswurzel-Projekt passt. „Oh, es gibt viele Gründe“, antwortet sie. „Aber vor allem möchte ich, dass die Dinge besser werden. Es ist schrecklich, wenn man sieht, dass die Dinge schlechter sind, als sie sein könnten.“

Mehr zur Arbeit des Projekts El Rincón finden Sie →hier. Dort können Sie auch spenden, wenn Sie dies wollen. Die Fotos der fest verwurzelten Birkenfeigen stammen von Mashu Gutierrez. Dieser Artikel erschien zuerst auf treff3.

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.Mit Material aus:

D. Althaus, „Lending a hand to turn a corner“, Houston Chronicle, 30. August 2009.
M. Gallucci, „El Rincón creates a lifline to Malinalco migrants“, The News, 17. März 2010.
A. Gómez Licón, „Hijos de migrantes mexicanos repatriados sufren en México“, AP, 14. Juli 2012.