Sie kamen in das Tal von Malinalco. Es war tief wie ein Riesenbecher, angefüllt mit Fruchtbarkeit und Duft. Schroffe Felswände öffneten sich dem erstaunt niedersteigenden Trupp des Stammes. Seine dunklen Seiten waren über und über besetzt mit den Sternen von Agaven. Bäche stürzten zum breiten Boden des Bechers, zerstäubten in Wasserfällen, schmeichelten über saftige Wiesen, bohrten sich durch das Dickicht der Fruchtbäume, dehnten sich aus in der weiten Ebene. Die Bäume waren voller Vögel; es schien manchmal, als seien alle Blätter zu Vögeln geworden und sängen ihren Dank in die lauwarme Seligkeit des Tales.
So paradiesisch beschrieb der deutsche Exilschriftsteller Gustav Regler das Tal von Malinalco in seinem Roman Amimitl. Seit Mitte der vierziger Jahre lebte Regler in Tepoztlán, einem Dorf oberhalb von Cuernavaca. Nach Malinalco war er herübergeritten, um die Ausgrabungsarbeiten am monolithischen Tempel zu sehen und mit den Archäologen zu sprechen. Hier ließ er sich außerdem zu einem Kapitel seines Romans inspirieren.

Als Gustav Regler Amimitl schrieb, lebte er seit fünf Jahren in Mexiko. Der Schriftsteller, geboren am 25. Mai 1898 in Merzig im Saarland, war auf abenteuerlichen Wegen nach Mexiko gekommen. Als Kommunist war er im Frühjahr 1933 vor den Nationalsozialisten nach Paris geflohen, hatte von dort gegen den Anschluss des Saarlands an das Deutsche Reich gekämpft, war in Moskau zur Kaderschulung gewesen, hatte in Spanien als Kommissar der Internationalen Brigaden gegen Franco gekämpft, war verwundet worden und schließlich in Frankreich in einem Internierungslager gelandet. Als die Wehrmacht im Mai 1940 Frankreich überfiel, gelang es ihm, sich aus dem Lager zu befreien, nach Paris zu fliehen, seine Frau Mieke abzuholen, in den Zug zu springen und mit ihr in Nizza den letzten Dampfer in die USA zu erwischen. Aber dort wollte man ihn nicht, weil er Kommunist war, und so kam er im Sommer 1940 wider Willen nach Mexiko.
Es war kein einfaches Exil für Gustav. Nicht genug, dass er weiter mit dem Nationalsozialismus rang, nun haderte er auch noch mit den Kommunisten. Nach dem Hitler-Stalin-Pakt war er auf Distanz gegangen, und als die Genossen nach und nach in Mexiko eintrafen, wähnte er sich täglich mehr verraten und verfolgt. Mexiko wurde für ihn zum Schlangennest.
Erst nach dem Ende des Kriegs fühlte sich Regler frei genug, um über Mexiko zu schreiben. Mieke war kurz nach Kriegsende an Brustkrebs gestorben, und mit seiner neuen Frau Peggy zog er nach Tepoztlán, einen halben Tagesritt von Malinalco entfernt in den Felsen oberhalb von Cuernavaca. Hier schrieb er zwei Bücher über Mexiko, eines davon sein historischer Roman Amimitl, der die mythische Wanderung der →Mexica (besser bekannt als Azteken) von Aztlán in das Tal von Mexiko beschreibt. Der Roman ist eine sehr freie Interpretation des Mythos, weshalb Regler selbst ihn als „historische Fantasie“ bezeichnete. Hier erzählt er, wie der Oberpriester Amimitl die Mexica vom Norden in das Hochland von Mexiko führt, auf der Wanderung alles Weibliche in ihrer Kultur ausmerzt und sie zu einem grausamen Volk von Kriegern formt.
Eine entscheidende Szene spielt im Tal von Malinalco, das Regler als Inbegriff des Weiblichen schildert — üppig, warm und fruchtbar, „eine weite, schlingende, fordernde Wollust“:
Riesenorchideen standen auf wie abgründige Schöße, waren duftend und weit, dass ein verwirrter Mannskopf leicht darin versinken konnte. Das Tal kannte kein Maß. Die Zeugung wurde keinen Augenblick unterbrochen. Gier gab sich die Hand, riss sich nieder in umarmendem Wahnsinn. Ahuacatebäume hielten unter großen Bäumen hundert blau-schwarze Brüste versteckt. Es war ein Glanz auf allen Früchten wie auf eben geküssten Lippen… Bäume waren voll handgroßer weißer Blüten, die aufeinanderhockten wie verliebte Tauben. Aus allen Poren der Erde brach der Geruch der Wiedergeburt.
In diesem Tal versucht die Muttergöttin Metztli, Amimitl die Mexica abspenstig zu machen und sie zum Bleiben zu bewegen. Sie schleppt Pulque — einen vergorenen Agavensaft — heran und lässt die Krieger eine Orgie feiern. Doch Metztlis Plan scheitert. Der grausame Asket Amimitl wartet geduldig, bis seine Mexica ihren Rausch ausgeschlafen haben, bestraft einen der Betrunkenen grausig und führt den Stamm wieder aus dem Tal hinaus. Malinalco war das letzte Aufbäumen des Weiblichen, von nun an führt der Weg immer gradliniger in Richtung der blutrünstigen Kultur, die Regler mit den Mexica verbindet.
Ganz falsch lag der Schriftsteller vielleicht nicht damit, Malinalco als Ort des Ewig-Weiblichen zu beschreiben: Mit seiner Muttergottheit Malinalxóchitl und seiner langen Tradition der Heilerinnen und Zauberinnen war der Ort vielleicht tatsächlich einmal eine Art Mutterherrschaft gewesen. Zumindest erzählt man sich das in Malinalco gern, doch das ist genauso „historische Fantasie“ wie der Roman selbst.
Regler ging es in Amimitl aber gar nicht darum, die historische Wirklichkeit exakt zu rekonstruieren. Vielmehr wollte er aus der Geschichte heraus zu verstehen, wie das Schreckliche in die Welt kommt. Insbesondere wollte er in den Untiefen der menschlichen Seele nachspüren, wie eine Terrorherrschaft wie der Nationalsozialismus möglich sein konnte. Auch in seinem Buch Vulkanisches Land, das zur gleichen Zeit entstand, kann man spüren, wie sehr ihn der Nationalsozialismus umtrieb, auch hier setzte er sich immer wieder in Seitenblicken und Exkursen mit dem Terrorregime auseinander. Mexiko wird für ihn zur Projektionsfläche, zwischen den Zeilen blitzt immer wieder das auf, was ihn in dieser Zeit wirklich beschäftigte.
Vielleicht ist es ja das Schicksal all derer, die aus der Heimat vertrieben über fremde Länder schreiben: Ob sie es wollen oder nicht, sie schreiben immer auch über sich selbst.
Bibliografie
Amimitl oder Die Geburt eines Schrecklichen. Saarbrücken: Saar Verlag, 1947
Vulkanisches Land. Ein Buch von vielen Festen und mehr Widersprüchen. Saarbrücken: Saar Verlag, 1947.
Verwunschenes Land Mexiko. München: Paul List, 1954
Mit Material aus meinem Buch In Mexiko: Reise in ein magisches Land. Einen weiteren Artikel zu Gustav Regler findet Ihr heute unter dem Titel „Was suchen wir hier?“ im →Literaturblog von Birgit Böllinger . .
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