Menschen aus Mais

Ob man über Mexiko schreiben kann, ohne den Mais zu erwähnen? Ich glaube nicht — Mexikaner sind schließlich Menschen aus Mais!

Nachdem die Götter die Welt mit ihren Pflanzen und Tieren erschaffen hatten, so das heilige Maya-Buch Popol Vuh, wollten sie ein Wesen formen, das sprechen und die Früchte der Erde ernten sollte. Der eigentliche Grund war jedoch, dass die Götter jemanden haben wollten, der sie verehrte. Sie überlegten lange hin und her, aus welchem Material sie dieses Wesen herstellen wollten. Zunächst wählten sie Ton und formten ihn sorgfältig und mit Liebe zum Detail. Doch das Ergebnis blieb hinter den Erwartungen zurück: Ihr Wesen konnte zwar sprechen, doch es war tollpatschig und blind. Außerdem sackte es in sich zusammen und löste sich bei Regen auf.

Enttäuscht suchten die Götter nach einem neuen Material. Im zweiten Anlauf entschieden sie sich für Holz und schnitzten ein Wesen, das sprechen, gehen und sich sogar vermehren konnte. Leider mussten sie bald feststellen, dass ihre Marionette kein Herz hatte: Sie irrte ohne Sinn und Ziel auf der Erde umher, redete Unsinn und erkannte zu allem Überfluss ihre Schöpfer nicht. Also schickten sie eine Flut, um die missratene Kreatur zu ertränken.

Doch die Götter blieben hartnäckig. Nach einigem Hin und Her wählten sie schließlich als Material die Nahrung, die das neue Wesen essen sollte. Sie ernteten die reifen Kolben des roten, gelben und weißen Mais, entkernten sie, mahlten die Körner und kochten die Masse mit Regenwasser. Aus dem nixtamal kneteten sie vier neue Wesen, vorsichtshalber erst einmal nur Männer. Und siehe da, diese Kreaturen konnten gehen, sehen, denken, fühlen und sprechen. Und vor allem erkannten sie ihre Schöpfer. Zufrieden formten die Götter nun auch noch vier Frauen. Die Menschen vermehrten sich und machten sich irgendwann auf den Weg in ihre neue Heimat, das heutige Hochland von Chiapas und Guatemala. Als sie dort ankamen, brachten ihnen die Tiere bei, Felder anzulegen, den Mais anzubauen und Tortillas zu backen.

Der Urahn des Mais ist ein Süßgras mit dem Namen Teocinte, das bis heute in den Wäldern Mesoamerikas wächst und ein Händchen voll Samen produziert. Die ältesten Funde sind etwa siebentausend Jahre alt und zeigen, dass schon die Jäger und Sammler den Wildmais auf dem Speiseplan hatten. Bei Ausgrabungen in einer Höhle von Tehuacán im Bundesstaat Oaxaca fanden Archäologen die abgenagten Überreste von viereinhalb Zentimeter langen und fünfeinhalbtausend Jahre alten Maiskölbchen, das heißt, die Bewohner der müssen den Mais schon angebaut haben. In derselben Höhle wurden Reste von Maiskolben gefunden, die etwa ein Jahrtausend später geerntet wurden und inzwischen immerhin eine Län­ge von elf Zentimetern erreicht hatten. Vor rund dreieinhalbtausend Jahren hatte der Mais dann etwa die Größe und das Gewicht der heutigen Kolben.

Aus meinem Buch Mexiko. Ein Länderporträt.

comal

Zubereitet wird der Mais übrigens seit Jahrtausenden auf dieselbe Weise — fast wie im Popol Vuh beschrieben. Zunächst werden die Maiskörner zwei Stunden lang zusammen mit ungelöschtem Kalk gekocht, um die harte Schale aufzulösen, die Klebstoffe freizusetzen, die Giftstoffe zu zerstört und die Eiweiße für den menschlichen Verdauungsapparat zugänglich zu machen. Danach werden die gekochten Körner zermahlen und mit etwas Wasser zu einer festen Masse namens nixtamal verrührt.

Aus diesem Teig werden meist Tortillas geformt. Dazu nimmt man eine kleine Handvoll Teig, formt ihn mit der Hand oder einer Presse zu einem Fladen, legt ihn auf eine heiße Platte, den comal und erhitzt ihn vor beiden Seiten etwa dreißig Sekunden.

Aber aus dem Nixtamal lassen sich schier endlos viele Sorten von Fladen zubereiten, und jede Region hat ihre eigenen Spezialitäten. Diese Marktfrau aus Malinalco bereitet zum Beispiel Tlacoyos zu, die mit Bohnenpüree gefüllt sind und nachher mit mit Nopal belegt, mit Chilisoße bestrichen und mit Frischkäse bestreut werden.

Zur Bedeutung des Mais in Mexiko kommt demnächst auch ein Film ins Kino und Internet: