Passion

Ein Paar Reitersoldaten nach dem anderen durchreitet den Doppelbogen. Die meisten sind erwachsene Männer, einige haben ihr Söhnchen in voller Montur auf dem Sattel vor sich sitzen. Etwas größere Jungen sitzen auf einem eigenen Pferd, das vom nebenher reitenden Vater geführt wird. Ab elf oder zwölf reiten die Jungen dann allein. Alle blicken sie ernst drein und würdigen die Zuschauer im Hof keines Blicks. Einigen Reitern fällt es etwas schwerer, die Würde zu bewahren, weil ihre Pferde den langsamen Trott nicht mögen und zu tänzeln anfangen. Manche stellen sich quer, vor mir steigt ein Pferd auf und der jugendliche Reiter muss seinen Speer fallenlassen und sich mit beiden Händen in die Mähne krallen, um nicht abgeworfen zu werden.

Ab Palmsonntag verwandelt sich ganz Malinalco in ein Passionsspiel. Gefühlt die Hälfte der männlichen Einwohner legt sich einen Samtumhang an, setzt einen Papphelm auf, gürtet sich mit einem Holzschwert und reiht sich in die Prozessionen ein. Aus Toluca, Cuernavaca, Mexiko und sogar aus den USA kommen die Malinalca in ihre Dorf zurück, um an der Feier teilzunehmen. Selbst die Kleinsten sind schon dabei.

Die Tradition geht noch auf die Missionierung durch die Augustiner zurück, als die Malinalca durch diese Art von gelebtem Theater an das Heilsgeschehen herangeführt werden sollten. Dass es Zuschauer gibt, ist ein neues Phänomen der Freizeitgesellschaft — dieses Passionsspiel ist kein Theaterstück, sondern eine kollektive Inszenierung. Das ganze Dorf wirkt mit, die Männer setzen die Kirche instand und übernehmen die Rollen von römischen Soldaten (»Juden«, wie sie hier heißen), die Frauen nähen schon Monate vorher Kostüme, kochen Essen, fegen und schmücken die Kirche mit Blumen, kleiden die Heiligenfiguren und begleiten natürlich die Prozessionen.

Diese Passionsspiele werden von der ganzen Gemeinde getragen und sie tragen die Gemeinde. Sie werden vom Pfarrer begleitet, doch sie entwickeln in jedem Ort, in dem sie noch abgehalten werden, ihre ganz eigene Dramaturgie. Während es andernorts nur Karfreitagsprozessionen gibt, ziehen die Malinalca am Samstagvormittag ein weiteres Mal durch den Ort (sehr zum Missfallen des Dorfpfarrers, für den der »stille Samstag« ein Tag der Einkehr ist). Einen Jesus gibt es in Malinalco nicht; die Hauptfiguren sind Pilatus, der einen auf ein großes Schild gepinselten Urteilsspruch durch die Gassen trägt, und Judas, der in der Nacht zum Ostersamstag schreiend das Dorf hinunter rennt.

https://youtu.be/8A_5u_GLF5Q.

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In_MexikoJürgen Neubauer
In Mexiko
Reise in ein magisches Land
Taschenbuch, 336 Seiten: 15,- Euro
E-Book: 9,99 Euro

Vom Leben in der Riesenstadt geschafft, ziehen der Erzähler und seine mexikanische Frau aufs Land — in ein Dorf zwischen den Vulkanen des mexi­kanischen Hochlands. Dort tauchen sie in ein unbekanntes und faszinierendes Mexiko ein: Sie begegnen Schamanen, Scharlatanen, Heilern und Wettermachern und bekommen es mit Drogen­händlern, Wahlbetrügern, arroganten Städtern und Großgrundbesitzern zu tun. Die Reise gipfelt in einem zügellosen Karneval, bei dem Magie und Moderne, Vergangenheit und Gegenwart, Arm und Reich aufeinanderprallen.
Ein literarischer Reisebericht, der in die Tiefe Mexikos entführt, und ein unterhaltsames Porträt des Landes und seiner Menschen.

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